Erinnerungen und Erzählungen der Ältesten aus Uçhisar
GESCHICHTEN AUS KAPPADOKIEN
KINDHEITSERINNERUNGEN DER ÄLTESTEN
Photos by Evelyn Kopp Copyright © 2014 All rights reserved
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DAS VERSPRECHEN
Mein
Baby war gerade geboren, da starb mein Mann. Nie in meinem Leben, hatte
ich mich so einsam und allein gefühlt. Ich war noch sehr jung, 17 Jahre
alt. In diesem Jahr musste ich meine Sachen und die meiner kleinen
Tochter zusammen packen, um das Haus der Familie meines verstorbenen
Mannes, in dem ich seit der Hochzeit gelebt hatte, wieder zu verlassen.
Auf dem Weg zurück in mein Elternhaus wusste ich bereits, dass mein
Leben dort nicht leichter werden würde.
Schon
als ich noch ein sehr junges Mädchen war, drängte mein Vater auf eine
baldige Eheschließung und als dann die Düğün bevorstand, war er
erleichtert, mich für unsere Verhältnisse gut verheiratet zu haben. Doch
das Schicksal wollte es anders, und nun stand ich wieder vor seiner
Tür. Die
folgenden Wochen und Monate waren geprägt von Vorwürfen und harter
Arbeit. Zwar konnte mein Vater eine zusätzliche Hilfe während der Ernte
gut gebrauchen, doch als diese eingebracht war und die Vorräte für den
Winter gelagert, gab es nicht ein gutes Wort mehr für mich. Dann, eines
Tages, teilte er mir mit, dass ein neuer Mann für mich gefunden worden
wäre und ich so bald als möglich bei ihm einziehen sollte. Mehr sagte er
nicht. Ich ahnte, was auf mich zukommen sollte, doch meine
Befürchtungen wurden noch übertroffen.Unter
Tränen verabschiedete mich meine Mutter an der Haustür und ich wurde,
nur von einer Tante und deren Freundin, nach Uçhisar begleitet. Es hatte
keine Kına Gece, kein Kız Başı gegeben, ich hatte keine Geschenke
bekommen und besaß fast keine Aussteuer. Ich war ängstlich und
unglücklich und hielt mein Baby fest im Arm, als wir Uçhisar erreichten.
Meinen
neuen Ehemann hatte ich nie zuvor gesehen und wusste deshalb auch
nicht, dass er fünfundzwanzig Jahre älter war als ich. Der Ort, an dem
wir von diesem Tage an leben sollten, bestand aus einem Höhlenraum für
uns drei und einem weiteren, in dem unsere Kuh und ein Esel standen. Es
gab weder elektrisches Licht, noch fließendes Wasser. Es war kalt. Da
stand ich nun, meine Tochter noch immer fest im Arm haltend. In diesem
Augenblick schwor ich mir: ‚Ich habe die Verantwortung für mein Kind und
werde alles tun, damit es ihm einmal besser gehen wird..“Kein
Tag unterschied sich von dem anderen. Ich verrichtete die Hausarbeit so
gut ich konnte und versorgte die Tiere. Im Dorf kannte ich nur die
Familie meines Mannes und es war auch schwer, daran etwas zu ändern,
denn es war mein Mann der zur Çeşme ging um Wasser zu holen und auch das
Brot durfte ich nicht im Fırın backen, sondern in unserem eigenen
kleinen Ofen. Andere Frauen aus der Nachbarschaft bekam ich deshalb nur
sehr selten zu Gesicht. Besuch bekamen wir nie, auch nicht von der
Familie; ich glaube, mein Mann schämte sich sehr.
So
vergingen drei einsame Jahre, bis wir es uns endlich leisten konnten,
einen Raum vor die Höhle zu bauen, die wir bis dahin bewohnt hatten. Ich
häkelte Gardinen für die Fenster und richtet das Zimmer hübsch ein.
Schon bald kam die Familie das erste Mal zu Besuch und auch zur Çeşme
und dem Fırın ging ich selbst. Bald kannte ich die Frauen aus der
Nachbarschaft und schloss mit ihnen Freundschaft; endlich konnte ich
mich auf den nächsten Morgen freuen. Wenn
ich an diese schwere Zeit zurückdenke, dann weiß ich, daß ich mein
Versprechen von einst gehalten habe. Nicht nur meine älteste Tocher ist
gut versorgt, auch die anderen drei Kinder, die ich nach ihr geboren
habe, sind gesund und haben längst ihre eigene Familie. Ihnen geht es
viel besser, als es mir damals ergangen ist und darüber bin ich sehr
glücklich.
Um
mir selbst Mut zuzusprechen, habe ich während der ersten Jahre meines
Ehelebens zu mir selbst sagen müssen: Man darf nie aufgeben, egal was
passiert! Und heute, da ich alt bin, sage ich dies auch zu meinen
Enkeln. Ich bin mir ganz sicher – dann nimmt alles ein gutes Ende. (Erzählerin, geb. 1939)
UNSER LEHRER
Immer, wenn ich in unserer Mahalle die Jungen und Mädchen beim Spielen sehe, erinnert ihr Lachen mich an die unbeschwerten Tage meiner Kindheit. Weder Hitze noch Kälte, Regen oder Schnee, konnten uns daran hindern auf den Straßen herumzutollen, die steilen Abhänge des Tals zu erkunden oder uns in den Höhlen zu verstecken. Manchmal sammelten wir runde Steine um damit Murmeln zu spielen, oder wir bastelten aus alten Stoffresten, die wir mit einem dünnen Seil fest zusammenbanden, einen Ball. Mein Lieblingsspiel jedoch war das ‚Schnicken’ von kleinen Scheiben. Wenn irgendwo im Dorf ein Schaf geschlachte wurde, baten wir um die Kniescheibe des toten Tieres und fertigten daraus eine dünne, gleichmäßig runde Scheibe. Danach bemalten wir diese mit verschiedenen Farben, damit jeder von uns Kindern das eigene Spielzeug wiedererkennen konnte. Einige von uns waren sehr geschickt. Wir legten uns die bunte Scheibe auf den angewinkelten Zeigefinger und mit dem Daumen ‚ein Schnick!’ und schon flog sie in hohem Bogen gegen die Mauer. Meine eigenen Scheiben lagen zwar nicht immer am nächsten zur Wand, doch ich hatte viel Spaß. So beschäftigt, überhörten wir Kinder nicht selten das Rufen unserer Mütter. Doch unser Spiel wurde sofort beendet, wenn wir unseren Lehrer sahen. Dann rannten wir ihm entgegen und umringten ihn, denn wir wussten genau, dass er in seine Hosentasche greifen und eine handvoll Leblebi an uns verteilen würde, geröstete Kichererbsen. Aus meiner Kinderheit erinnere ich mich hieran am besten, denn in diesen Momenten war ich sehr stolz. Der Lehrer, den alle Kinder des Dorfes mochten, war mein Vater. Als er im Alter von 25 Jahren starb, war ich gerade einmal vier Jahre alt. Meine Mutter tat gut daran, die Regeln meines Vaters weiterhin aufrecht zu halten. Da er selbst eine gute Schulausbildung genossen hatte, bishin als Lehrer zu unterrichten, war es sein Wunsch, dass auch seine Kinder dieses Privileg erhielten. Deshalb lernte ich so gut ich konnte und vertiefte mein Wissen durch ständige Wiederholungen des Unterrichtsstoffes.
Mein fester Wille ermöglichte es mir die Schule nach fünf Jahren zu beenden, jedoch mit dem Abschlusszeugnis und Reifegrad des siebten Schuljahres. Ich weiß, dass mein Vater sehr stolz auf mich gewesen wäre (Erzähler, geb. 1928)
VOGELFREI
Als ich noch ein Junge war, bekam ich meinen Vater nur selten zu Gesicht, und oft hatte ich mich gefragt, warum er wohl nicht bei uns lebte. Meine Mutter erzählte mir und meinen Geschwistern, dass das nicht immer so war: Wie die anderen Männer von Uçhisar bestellte mein Vater das Feld, brachte die spärliche Ernte ein und versuchte so, uns alle gut zu versorgen. Scheinbar reichte dies nicht aus, denn eines Tages beschloss er, anderweitig Geld zu verdienen und ging zu den Bauern, um seine Arbeit anzubieten – mein Vater reparierte Düven. Früh am Morgen verließ er das Haus und kehrte erst spät abends wieder zurück. Nun kümmerte sich meine Mutter neben ihrer Hausarbeit auch um das Feld, doch mit dem zusätzlichen Geld, dass mein Vater nach Hause brachte, konnte sie wenigstens das Nötigste für uns kaufen. Eines Abends jedoch warteten wir vergebens. Längst war es dunkel, doch mein Vater kam nicht wieder nach Hause.Nicht nur wir Kinder, auch meine Mutter vermisste ihn sehr. Ihr Blick wurde jeden Tag trauriger und wir hatten nicht den Mut, sie wegen meines Vaters zu fragen. Anscheinend hatten wir auch so verstanden, dass etwas passiert sein musste, worüber sie nicht sprechen wollte oder konnte.Irgendwann, es waren einige Monate vergangen, hörten wir in der Nacht Geräusche im Haus und schlichen uns an die Tür unseres Zimmers um zu sehen, was draußen im Hof vor sich ging. Wir öffneten die Tür einen Spalt breit und waren sehr erstaunt, dass wir unseren Vater sahen. Er stand bei meiner Mutter und die beiden flüsterten. Seine Kleidung war zerschlissen und seine Schuhe verdreckt. Als ihm meine Mutter einen Beutel gab öffnete er leise das Hoftor, huschte auf die Straße und schon war er in der Dunkelheit verschwunden. Von diesem Tag an kam er manchmal wieder nach Hause, immer in der Nacht, heimlich. Meine Mutter sprach nie darüber. Sie gab ihm zu Essen, saubere Kleidung und wenn wir am Morgen aufstanden, ließ nichts auf einen nächtlichen Besuch schließen.
Jahre später, als wir alt genug waren um das Gerede im Dorf zu verstehen, wurde uns das Schicksal unseres Vaters bewusst. Für einen Fehler, etwas, was wir nicht zu hören bekamen, hatte man ihn für ‚vogelfrei’ erklärt. Von jenem Tag an lebte er in den Bergen und nur selten kam er zurück nach Uçhisar, um seine Familie zu sehen. (Erzähler, geb. 1923)
EIN EIGENES ZIMMER
Ich wurde nicht in Uçhisar geboren, und ich war auch noch zu klein, um mich daran zu erinnern, wie wir hierher gekommen waren, doch eines werde ich nie vergessen; die traurigen Augen meiner Mutter, wenn ich ihr Fragen über die Vergangenheit stellte:Meine Mutter war schwanger, als mein Vater starb. Er war noch sehr jung, doch seine Krankheit ließ ihn bereits seit mehreren Jahren leiden. Nach dem Tod meines Vaters wurden wir von meinem Großvater aufgenommen. Wie es die Tradition vorschreibt, hatte er ab sofort er die Verantwortung für uns. Für meine Mutter begann eine schwere Zeit. Das Haus in Uçhisar war nicht viel mehr als ein Zimmer, in dem sich die ganze Familie aufhalten musste. Man aß, arbeitete und schlief in dem einen, kleinen Raum. Zwar gab es noch einige Höhlen, aber dort wurde die Ernte gelagert und stand das Vieh. Dann wurde mein kleiner Bruder geboren. Es wurde noch enger, und in der Nacht weinte das Baby oft. Zwar machte man meiner Mutter keine Vorwürfe, aber die Stimmung wurde gereizt, und oft kam es zum Streit. Eines Morgens, es war noch sehr früh und der Muezzin hatte gerade eben erst zum Morgengebet gerufen, wurden wir leise von unserer Mutter geweckt. Sie gab uns unsere Kleider, die wir draußen anziehen mussten um niemanden zu wecken. Als wir auf die Straße gingen, stand dort schon der Esel, auf dem Rücken zwei große Körbe. Noch waren sie leer, doch als wir am Abend nach Uçhisar zurückkehrten, waren sie gefüllt mit schweren Steinen.
Von jenem Tag an begleitete ich meine Mutter, die meinen Bruder auf dem Rücken trug, in die nahe gelegenen Berge. Dort sammelten wir so lange herumliegende Steinbrocken, bis die Körbe gefüllt waren. Wieder und wieder machten wir uns auf diesen beschwerlichen Weg. Die Arbeit war hart und die Hände meiner Mutter waren grob und geschunden, sie selbst noch trauriger. Doch dann wurden ihre Bemühungen belohnt. Als wir genügend Steine gesammelt hatten, baute mein Großvater ein zweites Zimmer. Endlich hatte unsere Familie wieder ein eigenes, kleines Zuhause. (Die Mutter des Erzählers wurde geb. 1909)
Die Familie des kleinen Jungen lebt noch immer in dem Haus. Die Höhlen sind mitlerweile eingestürzt, doch heute gibt es viele, helle Zimmer.
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